Strange Circus

Das Haus der 1000 Metaphern

Bewegen wir uns vorerst auf der Ebene dessen, was wir sehen. Und was wir sehen, ist beeindruckende Filmkunst in vielen Paletten. Die Bilder und Einstellungen in „Strange Circus“ sind durch und durch komponiert. Gleichzeitig sind aber auch viele dieser Bilder nichts für Zartbesaitete, denn mit der schrecklich-schönen Oberfläche werden Themen wie Kindesmissbrauch und daraus resultierende familiäre und persönliche Konsequenzen – oder besser Katastrophen – behandelt.

Der Titel wird bereits in der ersten Einstellung aufgenommen, in der wir uns in einer „Grand Guignol“ artigen Zirkus-Szenerie, in einem im wahrsten Sinne „seltsamen Zirkus“, befinden (mit sehr schrägen Figuren und genauso schrägen Einstellungen). Die Ich-Perspektive lädt den Betrachter für Momente selbst auf die Bühne, in deren Zentrum eine Guillotine auf das nächste Opfer wartet, nur um dann Platz für die Protagonistin Mitsuko (Rie Kuwana, Mai Takahashi), ein zwölfjähriges Mädchen, zu schaffen.

Nach dieser Traumsequenz zurück in der Realität, sehen wir, dass Mitsuko von ihrem Vater Gozo (Hiroshi Ohguchi) sexuell missbraucht wird. In einem Cellokasten versteckt, muss das Mädchen immer wieder seinen Eltern beim Sex zusehen. Zum Zusehen „gezwungen“ werden auch wir durch die explizite, voyeuristisch gefilmte Darstellung der Sex-Szenen.

Später, in der Umkehrung des „Spiels“, muss das Mädchen mit seiner Mutter Sayuri (gespielt von Masumi Miyazaki) die Rollen tauschen: Nun steckt ihre Mutter im Cellokasten… Dieser Rollentausch wird begleitet von der immer wieder eingespielten Off-Stimme Mitsukos: „Ich bin meine Mutter und meine Mutter ist ich!„. Der Film verfolgt nicht linear die Geschichte der Mitsuko, sondern springt zwischen Realität und Wahn sowie verschiedenen Zeitebenen und letztlich auch unterschiedlichen Charakteren hin und her.

Einer der Charaktere dieses Verwirrspiels ist die an den Rollstuhl gefesselte Romanautorin Taeko (ebenfalls gespielt von Masumi Miyazaki), die an einer Geschichte über ein zwölfjähriges Mädchen arbeitet, das seine Kindheit als „Hölle auf Erden“ erlebt. Worum geht es im Roman der Autorin? Ein Mädchen namens Mitsuko muss ihren Eltern beim Sex zusehen – in einem Cellokasten hockend … Ist dies nun Erfindung oder handelt es sich bei dem Roman um die Autobiografie der Autorin? Schreibt Taeko über die Ereignisse ihrer eigenen Kindheit? Dieses Mysterium will Taekos Assistent Yuji (Issei Ishida) lüften. Aber auch er bleibt kein einfacher, eindimensionaler Charakter …

In vielen Wendungen durchbricht „Strange Circus“ mehrmals die Erwartungen der Zuschauer. Hier zeigt sich der deutlichste Unterschied zu beispielsweise Werken von David Lynch: Wo bei Lynch Fragen offen bleiben, klärt Sono im letzten Drittel des Films alle gestellten Rätsel auf. Ihm liegt nicht viel daran, die Fragen und das Ende seines Films offen und in der Interpretation des Betrachters zu lassen. Die Metaphorik der ersten Hälfte blitzt in kurzen Flashbacks auf, die in diesem Kontext der Aufklärung dienen – immer wieder kehren wir auch zum Motiv des Zirkus zurück.

Etwas zu sehr belehrend wird die erste Hälfte der Handlung in anderem Licht neu aufgerollt. Konsequenterweise gerät diese Auflösung eher zu einem konventionellen, überdeutlich „rot“ geprägten, Horrortrip, der mit schockierenden Bildern alles andere als geizt. Insgesamt erhält der Schlusspart eine deutliche Splatter-Schlagseite. Für manche Geschmäcker mögen diese Gewaltszenen definitiv übertrieben sein – die anscheinend durch das zweite Regie-Vorbild Takashi Miike beeinflusst waren. Der Film endet schließlich, wo er begann: Im Zirkus. Und die Guillotine findet unter dem Beifall des Publikums ihr Opfer.

Fazit
„Strange Circus“ ist alles andere als ein einfacher Film und er macht es dem Zuschauer nicht leicht. Die Einschätzung, ob es sich hierbei um verstörende, asiatische Filmkunst jenseits moralischer Schranken oder absurden und abartig gewalttätigen Schwachsinn handelt, muss jeder selbst treffen. Wer Filme wie „Lost Highway“, „Eraserhead“ oder „Audition“ mag, dem wird vielleicht auch „Strange Circus“ zusagen.

Über jede Kritik erhaben bleibt aber die einzigartige und in puncto Bildsprache erstklassige Inszenierung. Allein dieser Bildsprache und der satten Farbwahl ist es wohl auch zu verdanken, dass der Film die Klippe vom Trash zum Arthouse meistert. Dazu gesellt sich in den extremen Szenen musikalische Untermalung durch erlesene klassiche Musikstücke

Der Film hat im übrigen – falls das nicht deutlich geworden sein sollte – durchaus zu Recht keine Jugendfreigabe erhalten.